„Mein Genie ist in meinen Nüstern“ – Skizzen zu einer Epistemologie der Witterung

5. Juni | 10:45-12:15 | Marc Jongen

Friedrich Nietzsches Aperçu aus Ecce Homo, „Mein Genie ist in meinen Nüstern“, ist insofern von wahrheitsgeschichtlicher Relevanz, als es die Nase zum Erkenntnisorgan par excellence erhebt. Es markiert den Bruch mit einer Jahrtausende alten philosophischen Tradition, die Erkenntnis – qua „Evidenz“, „Einsicht“, „Theorie“ (Schau) usw. – am Leitfaden einer vom Sehsinn abgeleiteten Metaphorik verstanden hatte. Nach Nietzsche wird die Wahrheit nicht länger (ein)gesehen, sie wird gewittert. Über die Gültigkeit eines philosophischen Systems, einer Moral oder Religion entscheidet nicht länger die logisch urteilende Vernunft, sondern der Geschmack. Mit dieser Umstellung von einer „höheren“ auf eine „niedere“ Sinnesmetaphorik wird nicht nur eine beispiellose Aufwertung des ästhetischen gegenüber dem logischen Urteil (das allein für Kant „objektive Erkenntnis“ garantierte) eingeläutet, in ihrer Folge wird dem Denken der Moderne – mit „Stimmung“, „Atmosphäre“ und verwandten diffusen Zuständen des „Zwischen“ – auch ein ganz neuer Phänomenbereich erschlossen. Der Vortrag versucht, auf der Linie von Nietzsches Anregungen Grundzüge einer allgemeinen philosophischen Witterungslehre zu entwerfen, die die Phänomenologie der Stimmungen und Atmosphären, wie sie im 20. Jahrhundert entwickelt worden ist, als Spezialfall einbezieht, die aber auch auf ältere Denkformen europäischer und fernöstlicher Spiritualität zurückgreift.